Wie reagiere ich richtig, wenn die Frau meines Kollegen verstirbt?
Interview mit Trauerbegleiterin Katrin Bischofberger begleitet Trauernde. Im Interview erklärt sie, weshalb wir offener mit dem Thema Tod umgehen sollten und wieso zum Trauern auch das Lachen gehört.
Frau Bischofberger, Sie beschäftigen sich mit schwierigen Themen: Trauer, Verlust, Tod. Sind Sie ein schwermütiger Mensch?
Katrin Bischofberger: Nein, das würde ich nicht sagen. Ich denke, dass ich ein reflektierter Mensch bin. Aber es sind die schweren Themen, die mir liegen, die mich anziehen, die mich rufen – und da gehört der Tod dazu.
Weshalb?
In schweren Momenten ist es ganz besonders wertvoll, wenn jemand da sein kann, der nicht im ganzen Gefühlsstrudel mit drinhängt. Jemand, der Sicherheit geben kann, der zuhört, der einfach da ist.
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Katrin Bischofberger ist 1985 geboren und lebt mit ihrer Familie in Winterthur. Nach einer Lehre zur Kauffrau mit Berufsmaturität arbeitete sie über zehn Jahre lang bei verschiedenen Banken im Private Banking im In- und Ausland. 2013 entschied sie sich, eine neue berufliche Herausforderung zu suchen, und nahm eine Stelle beim Bestattungsamt Zürich an. Beim Institut für Körperzentrierte Psychologie absolvierte sie die Ausbildung zur psychologischen Beraterin. Seit 2019 arbeitet sie als Trauer- und Geburtsbegleiterin. Im Fokus ihrer Arbeit steht insbesondere auch die Begleitung beim frühen Tod eines Kindes und die emotionale Unterstützung von sogenannten Sternenmamis, die ihr Kind «still», also bereits verstorben, zur Welt bringen.
Wer kommt zu Ihnen in eine Trauerbegleitung?
Es ist sehr unterschiedlich. Gewisse Menschen kommen ein bis zwei Mal für ein Beratungsgespräch. Dann gibt es Leute, die ich über mehrere Monate begleite, oder jene, die sich vorbereitend melden, weil sie zum Beispiel wissen, dass ein Elternteil bald sterben wird. Es gibt aber auch den Akutfall, wenn Soforthilfe benötigt wird.
Was brauchen die Menschen in diesem Moment?
Es geht ums Zuhören. Darum, der Trauer ihren Raum zu lassen und da zu sein. Oftmals geht es aber auch um die ganz praktische Hilfe.
Zum Beispiel?
Nehmen wir einmal an, mein Mann ist gerade verstorben. Da stellen sich Fragen wie: «Was muss ich jetzt machen? Wie organisiere ich die nächsten Tage und Wochen?» Alles, was die Beerdigung anbelangt, muss man planen: Die Abschiedsfeier, die Aufbahrung. Hier versuche ich gemeinsam mit den Betroffenen, Lösungen zu finden. Oftmals geht es auch um scheinbar banale Dinge wie: Was kann man organisieren, dass die Betroffenen in der Trauerphase essen und trinken, sich duschen und waschen. Es geht darum, dass Überleben dieser Menschen in diesem Moment zu sichern.
Man hört oft von den fünf Phasen der Trauer: Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Läuft Trauer tatsächlich immer ähnlich ab?
Trauermodelle können eine Orientierung sein. Meistens steht bei diesen Modellen aber in der letzten Phase der Abschied und das Loslassen. Doch es geht nicht nur um Akzeptieren, Loslassen und Abschiednehmen.
Worum geht es stattdessen?
Es geht darum, eine andere, innere Art von Beziehung zum Verstorbenen aufzubauen. Oftmals kommt vom Umfeld nach einigen Monaten das Signal: «So, jetzt ist aber langsam wieder gut.» Doch für Betroffene ist Trauerarbeit Lebensarbeit. Eine Mutter, die ihr Kind verliert, trauert ein Leben lang. Das ist nicht nach fünf Jahren vorbei. Trauer ist auch nie linear. Sie kann kommen und gehen. Es kann Tage, Wochen, Monate oder Jahre gut gehen, und plötzlich kommt wieder etwas hoch. Zum Beispiel dann, wenn das Kind in den Kindergarten gekommen wäre. Man trauert nie nur um einen Menschen, sondern immer auch um Wünsche, Träume, Unausgesprochenes, Pläne.
Können Sie ein Beispiel machen?
Nehmen wir das Beispiel eines Paares, das das Kind in der Schwangerschaft verliert. Dieses Paar verliert nicht nur das Baby, sondern auch die Vorstellungen, die es mit dem Kind verbunden hat: «Die nächsten Weihnachten sind wir zu dritt», oder «im nächsten Frühling gehe ich auch mit dem Kinderwagen durch die Stadt».
Gibt es einen Punkt, an dem die Trauer zu lange anhält? An dem sie nicht mehr «normal» ist?
Wenn es nach zwei, drei Jahren intensivster Trauer nicht besser wird, sollte man genauer hinschauen. Dann könnte es sich um eine erschwerte Trauer handeln. Das ist eine Form der Trauer, welche die Menschen massiv einschränkt. Bei Betroffenen funktioniert oftmals die Grundversorgung nicht mehr, sie können sich nicht mehr Sorge tragen.
Wer trauert, der weint. Ist das ein Klischee?
Es fliessen sicher viele Tränen. Aber Trauer ist nicht nur schwarz oder Schmerz. Trauer kann auch bunt sein. Sie umfasst Erinnerungen und Dankbarkeit. Auch die Trauerbegleitung ist deshalb nicht nur schwermütig. Man kann lachen, sich freuen, das alles gehört dazu. Ausserdem trauern wir alle ganz unterschiedlich. Gerade Kinder trauern ganz anders als wir Erwachsenen.
Inwiefern?
Kinder können ihre Gefühle noch viel besser zeigen. Wenn sie wütend sind, sind sie wütend. Sie können auch extrem traurig sein. Ich denke da immer an eine Pfütze. Kinder springen in diese Trauerpfütze hinein und sind dann fast untröstlich. Wenn zehn Minuten später der Freund an der Haustüre klingelt und spielen will, ist alles wieder super.
Sind Erwachsene zu kontrolliert?
Ich denke schon. In unserer Kultur ist das Zeigen von Gefühlen leider oft ein Zeichen von Schwäche. In der Trauerbegleitung versuchen wir, Gefühle zu erreichen und ihnen einen Platz zu geben. Natürlich hängt der Umgang mit Gefühlen immer auch von der Generation ab. Unsere Generation geht da schon anders um als zwei Generationen vor uns. Auch der Umgang mit dem Thema Tod hat sich gewandelt.
Wie genau?
Früher verstarben Menschen oftmals zu Hause. Man lebte in einem Mehrgenerationenhaushalt. Wenn dann die Grossmutter oder der Grossvater verstarb, konnte man dies sehen und miterleben. Oftmals fand auch die Aufbahrung noch zu Hause statt. Heutzutage ist Sterben viel anonymer. Wir sterben im Spital oder im Altersheim. Wir schauen uns die Verstorbenen auch nicht mehr an.
Ist diese Anonymität denn ein Problem?
Ich denke, der Tod ist heute zu wenig sichtbar. Doch es ist wichtig, dass wir uns mit dem Tod auseinandersetzen. Möchte ich kremiert werden oder lieber eine Erdbestattung? Wie soll meine Abschiedsfeier aussehen und möchte ich das überhaupt? Es ist wertvoll, diese Fragen in der Familie zu besprechen. Ich empfehle auch, dass man die eigenen Eltern fragt, was sie sich wünschen. Das ist besser, als nachher überlegen zu müssen, was in ihrem Sinne wäre.
Sie plädieren für einen offeneren Umgang mit dem Tod.
In der Familie ganz bestimmt. Gegen aussen muss das jeder und jede für sich selbst entscheiden. Eine Rundmail an alle Arbeitskollegen zu verschicken, kann natürlich auch überfordernd sein. In der Familie sollten der Tod, und was damit verbunden ist, aber ein Thema sein.
Angenommen, die Frau meines Arbeitskollegen verstirbt. Wie reagiere ich richtig?
Grundsätzlich ist es wichtig, überhaupt zu reagieren. Wenn man nicht weiss, was man sagen soll, kann man das ansprechen. Es ist besser, man sagt «mir fehlen die Worte», als zu schweigen. Man kann auch praktische Unterstützung anbieten und zum Beispiel eine Suppe vorbeibringen oder auf die Kinder aufpassen. Auf keinen Fall sollte man sagen: «Melde dich, wenn du was brauchst.» Das werden Betroffene in der Regel nicht machen. Besser ist, wenn man immer wieder Hilfe anbietet.
Gibt es sonst etwas, dass ich in so einem Fall falsch machen kann?
Die Frage «wie geht es dir?» kann ungünstig sein, denn die Antwort ist ja klar. Besser fragt man: «Wie geht es dir heute?»
Gibt es denn ein Rezept, das bei Trauer immer hilft?
Nein, das ist extrem individuell. Für eine Person kann es wichtig sein, möglichst schnell wieder in den Arbeitsprozess und in die gewohnten Strukturen zurückzugelangen. Für eine andere Person kommt das überhaupt nicht infrage. Gerade wenn ein Paar trauert, weil ein Kind verstorben ist, ist es sehr wichtig, dass die beiden miteinander sprechen. In der Regel sind nicht beide Personen im Trauerprozess am selben Ort.
Wie äussert sich das?
Ich erlebe es oft, dass jemand denkt, der Partner vermisse das Kind nicht, weil er oder sie nicht weint. Dabei muss das gar nichts heissen. Hier braucht es das gegenseitige Verständnis. Manchmal ist der eine Partner stärker, der andere schwächer. In solchen Situationen müssen Paare versuchen, sich gegenseitig aufzufangen und sich Halt zu geben.
Ist darüber zu reden grundsätzlich gut?
Nicht für jeden Menschen ist Reden das Richtige. Viele Menschen können sich zum Beispiel besser im Schreiben, im Malen oder bei der klassischen Gartenarbeit ausdrücken. Kreativität ist sicher etwas, das in der Trauerarbeit einen wichtigen Platz hat. In der Trauerbegleitung schauen wir auch, was den Betroffenen in anderen Situationen bereits geholfen hat. Das können auch Waldspaziergänge sein.
Wie sage ich meinem fünfjährigen Kind, dass das Grossmami gestorben ist?
Was ich sicher nicht machen würde, ist, zu sagen: «Die Oma ist eingeschlafen.» Dann fragt sich das Kind danach: Was, wenn ich heute Abend einschlafe? Oder auch nicht: «Sie ist weg.» Ja wohin denn? Man soll sagen, dass das Grossmami gestorben ist. Es gibt gute Bücher, die dabei helfen, mit Kindern über den Tod und das Sterben zu sprechen.
Ist es okay, wenn ich vor meinem Kind weine?
Ja, auf jeden Fall. Wenn Tränen kommen, dann darf das sein. Das Kind darf sehen, dass das Mami oder der Papi traurig ist. Man kann auch gemeinsam weinen. Das unterstützt einen natürlichen Umgang mit dem Thema.
Sie erwähnten, dass sich unser Umgang mit dem Tod verändert hat. Welche Rolle spielt Religion heute noch im Trauerprozess?
Religion gibt eine Struktur vor. Das kann unterstützend sein. Mir fällt es in der Regel leichter, jemanden zu begleiten, der eine konkrete Vorstellung von dem hat, was nach dem Tod kommt. Das muss nicht das Szenario sein, das man aus dem christlichen Glauben kennt. Das kann auch die Vorstellung sein, dass nachher nichts kommt.
Wie wichtig sind Rituale im Trauerprozess?
Sehr wichtig. Viele Leute, die aus der Kirche ausgetreten sind, wünschen sich trotzdem eine Trauerfeier oder eine Abschiedsfeier. Rituale geben Halt. Sie verbinden. Gemeinsam zu weinen, zu lachen, zu sprechen – das hilft. Wir Menschen sind keine Einzelgänger, auch wenn sich unsere Kultur dahingehend gewandelt hat.
Sie sind mit vielen traurigen Schicksalen konfrontiert. Wie schaffen Sie es, Distanz zu gewinnen?
Für mich ist der Ausgleich wichtig. Ich arbeite ja nicht nur mit Menschen, die jemanden verloren haben. Als Geburtsbegleiterin arbeite ich auch mit Menschen zusammen, die sich über die Geburt ihres Kindes freuen. Ich tausche mich auch mit anderen Begleiterinnen aus. Und bevor ich jemanden annehme, höre in mich hinein und überprüfe, ob ich die Energie habe, diesen Menschen zu begleiten. Wenn es nicht geht, dann gebe ich den Fall an eine Kollegin weiter.
Welche Fälle gehen ihnen besonders nahe?
Mich berührt es immer sehr, wenn ein Mami ihr Kind verliert – egal, wie alt sie ist. Das kann eine junge Frau sein oder eine 80-Jährige, die ihren 60-jährigen Sohn verloren hat.
Bereitet Ihnen der Tod Angst?
Nein, nicht mehr.
Wieso nicht?
Ich weiss es natürlich nicht, aber ich glaube, dass man begleitet wird, wenn es so weit ist. Von was oder wem auch immer.