«Die letzten Wochen waren für uns teilweise sehr frustrierend»

Gastfamilie im Behördenchaos Seit Mitte März beherbergen Erwin Moser und Sandra Trüb eine ukrainische Familie. Der administrative Dschungel bringt die Gastgeber immer wieder an ihre Grenzen.

Die Unterbringung einer ukrainischen Flüchtlingsfamilie ist für Erwin Moser (36) und Sandra Trüb (34) mit viel Arbeit verbunden. Foto: Marc Dahinden

In ihrer Küche in Niederwil bei Adlikon sitzen Erwin Moser und Sandra Trüb vor einem grossen Stapel Papier. «Das sind alles Dokumente, die sich in den letzten Wochen angesammelt haben», sagt Moser. «Merkblätter, Anträge und Formulare.» Auch eine Liste liegt auf dem Esszimmertisch im Bauernhaus des Ehepaars. Darauf haben Moser und Trüb sorgfältig sämtliche Institutionen aufgeführt, mit denen die beiden in Kontakt standen – Behörden, Ämter und Vereine. 27 Namen stehen auf dem Blatt Papier. Vom Staatssekretariat für Migration (SEM) über das Sozialamt Winterthur bis zur lokalen Meitliriege.

Seit Moser und Trüb vor rund zwei Monaten eine ukrainische Flüchtlingsfamilie bei sich aufgenommen haben, schlagen sich die beiden einen Weg durch den administrativen Dschungel, in dem oft vieles unklar bleibt. Die Liste helfe ihm, den Überblick zu behalten, sagt der 36-jährige Elektroinstallateur und Landwirt. Doch von Anfang an.

Das lange Warten

Als Russland die Ukraine überfällt und sich Tausende Ukrainerinnen und Ukrainer dazu gezwungen sehen, das Land zu verlassen, ist für Moser und Trüb sofort klar, dass sie helfen wollen. Sie melden sich bei einem ukrainischen Couchsurfer, der vor einigen Jahren bei ihnen übernachtet hat. Dieser schreibt von einer Familie, die bereits unterwegs in die Schweiz sei und einen Schlafplatz suche. Sofort räumen die beiden ihren Dachstock aus. Er dient der Familie zu diesem Zeitpunkt noch als Estrich, soll aber in Zukunft ausgebaut werden. Nur drei Tage später trifft die fünfköpfige Flüchtlingsfamilie bei Moser und Trüb und ihren beiden Kleinkindern ein. 

«Bereits am nächsten Tag haben wir den Schutzstatus S für die gesamte Familie beantragt», sagt Moser. Danach heisst es für alle Beteiligten: warten. Nach einer Woche habe er vom SEM eine E-Mail erhalten. Man sei dran. Dann wieder eine Woche nichts. Nachzuhaken ist damals nur via E-Mail möglich. Eine Telefonnummer, über die man sich erkundigen kann, gibt es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. «Wir tappten damals völlig im Dunkeln», sagt Moser.

Man fragt sich: Haben wir etwas falsch gemacht?
— Erwin Moser, Gastgeber

Hinzu kommt: Die in den Medien kommunizierten Zahlen verunsichern das Ehepaar. «Wir lasen immer, wie viele Geflüchtete bereits den Schutzstatus erhalten hatten. Doch wir hörten wochenlang nichts. Da kommt man sich blöd vor. Man fragt sich: ‹Haben wir etwas falsch gemacht?›»

Doch nicht nur die Beantragung des Schutzstatus bereitet Trüb und Moser Kopfzerbrechen. Als sie die Flüchtlingsfamilie bei der Gemeinde melden wollen, heisst es dort, dafür sei man nicht zuständig. Auch an wen sie sich wenden könnten, weiss die Gemeinde nicht. Nach mehrfachem Nachfragen erfährt Moser dann doch noch, er solle sich beim Fürsorgeverband Andelfingen melden. Dieser übernimmt bei Geflüchteten, die den Schutzstatus noch nicht erhalten haben, die Auszahlung der Nothilfe.

Nur: Als Moser beim Fürsorgeverband Andelfingen anklopft, lässt man ihn wissen, die Nothilfe werde nur auf ein Konto der Flüchtlingsfamilie ausbezahlt – Bargeld oder Checks seien keine Option.

Das Problem: Ohne den Schutzstatus ist es praktisch unmöglich, in der Schweiz ein Konto zu eröffnen. «Da denkt man sich schon: Das kann doch einfach nicht sein!» Moser vereinbart Termine mit mehreren Banken, erhält dort aber nur Absagen. Letztlich erklärt sich die Zürcher Kantonalbank dann doch noch bereit, ein Konto zu eröffnen. Die Bedingung: Der ausgestellte Schutzstatus muss innerhalb von 60 Tagen nachgereicht werden.

300 Franken im Monat draufzahlen

«Die letzten Wochen waren für uns teilweise sehr frustrierend», sagt Moser. Zähle man die Stunden zusammen, die er und seine Frau mit Behördengängen, Telefonieren und dem Ausfüllen von Dokumenten verbracht hätten, komme man auf zwei Arbeitswochen. Und das, obwohl die Flüchtlingsfamilie auch sehr viel selber organisiert habe: «Um Kleider oder SIM-Karten haben sie sich gekümmert.»

Doch nicht nur der Arbeitsaufwand belastet das Ehepaar. Auch der finanzielle Aufwand sei nicht zu unterschätzen. «Wir legen pro Monat schätzungsweise 300 Franken für Nebenkosten und Dinge wie Waschmittel und Hygieneartikel drauf», sagt Trüb. Einige Monate gehe das zwar gut, aber längerfristig sei das für sie nicht machbar. «Es summiert sich halt.»

Whatever it is, the way you tell your story online can make all the difference.
— Erwin Moser

Zwar ist ein Teil der gut 1000 Franken Nothilfe, die die Flüchtlingsfamilie erhält, für die Unterkunft vorgesehen, doch Moser und Trüb müssten das Geld von ihren Gästen einziehen. Für die beiden ist das keine Option: «Ich will kein Geldeintreiber sein», sagt Moser. Schon gar nicht, weil das Nothilfegeld sowieso schon kaum zum Leben reiche. 

Von der Gemeinde Adlikon hätten sich Moser und Trüb diesbezüglich mehr finanzielle Unterstützung erhofft. Insbesondere, weil das Flüchtlingskontingent der Gemeinde zumindest vor der Erhöhung auf 0,9 Prozent durch die Unterbringung der ukrainischen Familie bei Moser und Trüb bereits abgedeckt wurde. 

Bewerbungscoach, Übersetzerin, Gastgeber

Moser blättert durch die Unterlagen. «Am 6. Mai konnten wir anstossen.» Dann nämlich sei er endlich gekommen, der lang erwartete Brief. Seine Gäste werden nach Zürich ins Bundesasylzentrum eingeladen. Dort können sie sich offiziell registrieren und erhalten den Schutzstatus S. Die Odyssee hat ein Ende – oder zumindest scheint es damals noch so.

«Nach Erhalt des Schutzstatus ging das ganze Spiel wieder von vorne los», sagt Moser. Ab sofort ist nämlich nicht mehr der Fürsorgeverband Andelfingen, sondern die Asylkoordination Andelfingen für die Geflüchteten zuständig. Für Moser und Trüb bedeutet das erneut: Telefonieren, Dokumente ausfüllen, warten.

Mittlerweile brennt Trüb und Moser aber vor allem eine Frage unter den Nägeln: Wie geht es weiter? Die drei Monate, für die sich die beiden beim SEM als Gastgeber verpflichtet haben, nähern sich dem Ende. «Wir sind jetzt dabei, einen längerfristigen Mietvertrag aufzusetzen», sagt Moser. Eine Küche haben die beiden im Dachgeschoss bereits eingebaut. Zudem seien sie daran, für den Vater, die Mutter und die 17-jährige Nichte Jobs und eine Lehre zu finden. Moser und Trüb unterstützen die drei mit Bewerbungstrainings, beim Verfassen von Lebensläufen und Motivationsschreiben. «Als Gastgeber bist du eigentlich alles – vom Übersetzer bis hin zum Bewerbungscoach», sagt Moser. 

«Der Staat ist überrumpelt worden»

Kleiner wird der Stapel Papier auf dem Küchentisch also nicht. Und dennoch: «Wir würden es wieder machen», sagt Moser. Er habe Verständnis dafür, dass die Behörden mit der Situation überfordert seien. «So etwas haben wir noch nie erlebt, das hat ganz andere Dimensionen als die Flüchtlingskrise von 2015. Der Staat ist überrumpelt worden.» 

Gewünscht hätten sich die beiden eine klarere Kommunikation seitens des SEM sowie der Medien, was den Schutzstatus betrifft. «Und eine Anlaufstelle für Gastfamilien.» Es gebe zwar die Zürcher Helpline Ukraine, doch dort erhalte man im besten Fall moralische Unterstützung.

Es sind unsere Werte, die hier infrage gestellt werden. Das muss uns allen schon etwas wert sein.
— Erwin Moser

Vieles laufe aber auch gut, betont Moser: «Die Einschulung der Kinder war rasch und unkompliziert möglich, und auch den lokalen Vereinen wie der Jugi- oder der Meitliriege, muss man ein Kompliment machen.» Das Zusammenleben mit den zwei eigenen Kleinkindern und einer fremden Familie sei zwar eine grosse organisatorische Herausforderung, vor allem weil die Infrastruktur wie Küche, Ess-, Wohn- und Badezimmer gemeinsam benutzt würden. Sie funktioniere aber im Grossen und Ganzen. «Wir haben die Regel, dass wir immer sofort sagen, wenn etwas nicht passt. So staut sich der Ärger nicht an.» Nicht zuletzt glaube er aber auch, dass der Krieg alle etwas angehe. «Es sind unsere Werte, die hier infrage gestellt werden. Das muss uns allen schon etwas wert sein.»

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