Der mühsame Kampf um Eigenständigkeit

Arbeiten mit Handicap in Winterthur Die Suche nach einem regulären Job ist für Menschen mit Beeinträchtigung oft ein Spiessrutenlauf. Duygu Acikgöz hat über eine Integrationsorganisation eine Stelle in Winterthur gefunden.

Duygu Acikgöz (33) lebt seit der Geburt mit einer Form von Kleinwuchs. Foto: Marc Dahinden

Am 21. Januar 2021 sitzt Duygu Acikgöz in der Eingangshalle des Medizintechnik-Unternehmens Zimmer Biomet in Winterthur und wartet auf ihr Vorstellungsgespräch. Sie ist nervös, denn sie will den Job in der Produktion unbedingt. Seit fast 15 Jahren sucht die 33-Jährige nun schon nach einer unbefristeten Festanstellung. Unzählige Male hat sie sich beworben. Doch auf eine Absage folgte stets die nächste.

Wieso es nie geklappt habe, wisse sie nicht genau, sagt Acikgöz. Klar ist aber: Ihr Handicap dürfte eine Rolle gespielt haben. Denn Acikgöz lebt seit Geburt mit einer Form von Kleinwuchs. Gewisse Arbeiten fallen ihr schwer, weil ihre Hände klein sind und sie weniger Kraft hat.

Temporärstellen und Praktika

Wenn Acikgöz ihre Geschichte erzählt, wirkt sie zurückhaltend, ja fast scheu. Sie denkt lange nach, zögert und spricht dann mit Bedacht. Ihre Stimme ist leise, manchmal unsicher. Immer wieder scheint es, als zweifle sie an der Bedeutung ihrer Worte und an der Bedeutung ihrer selbst. Nur wer ganz genau hinhört, merkt: Hier sitzt eine Frau, die weiss, wie man kämpft, und die ihr Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit nie aufgegeben hat. Trotz aller Widrigkeiten.

Irgendwann glaubst du selbst nicht mehr daran.
— Duygu Acikgöz

Als Kind habe sie davon geträumt, im Büro zu arbeiten, sagt Acikgöz. Doch aus der KV-Lehre wird nichts. Stattdessen absolviert die Pfäffikerin eine Anlehre als Produktionsassistentin in Zürich. Danach folgen sieben Jahre lang Praktika und Temporärjobs, bis sie 2015 gar keine Stelle mehr findet.

Fünf Jahre lang bleibt sie arbeitslos, lebt von ihrer IV-Teilrente und von Sozialhilfe. Für Acikgöz eine furchtbare Zeit: «Daheim war mir sehr langweilig. Ich wollte unbedingt arbeiten.» Doch ihre Versuche, eine Stelle zu finden, laufen ins Leere. «Wenn du nur Absagen erhältst, stimmt dich das traurig. Irgendwann glaubst du selbst nicht mehr daran.»

Mehr als nur Rente

Den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen, sei für Menschen mit Beeinträchtigung nachweislich schwerer, wenn bereits die Erstausbildung im geschützten Bereich absolviert worden sei, sagt Daniela Aloisi von der Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich (SVA). Für das Selbstwertgefühl sei eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt aber bedeutend.

«Egal in welcher Funktion man arbeitet – es fühlt sich nun mal besser an, sagen zu können, man arbeite für die Migros statt in einer geschützten Werkstatt.» Geschützte Arbeitsplätze brauche es, doch gelte es, die persönlichen Ressourcen zu nützen und so den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen. «Die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt ist der Auftrag der IV und sie ist der Fokus unserer Arbeit im Einzelfall.»

Trotz jahrelanger Arbeitslosigkeit: Duygu Acikgöz hat nie aufgegeben. Foto: Marc Dahinden

Das war nicht immer so. «Bis vor 15 Jahren kannte man die IV vor allem für die IV-Rente, für Umschulungen und Unterstützung bei Geburtsgebrechen.» Seither habe allerdings ein Paradigmenwechsel stattgefunden. «Unser Schwerpunkt liegt heute auf der Integration und der Prävention.»

Zur Integration von Menschen mit einem Handicap arbeitet die SVA mit Eingliederungspartnern zusammen. Das sind soziale Institutionen und private Anbieter, die Jugendliche bei der Erstausbildung und Berufserfahrene beim Wiedereinstieg begleiten und coachen. Auch Acikgöz landet über die IV 2020 bei der IV-Partner-Organisation Wintegra, einer Fachstelle der Stiftung Andante aus Winterthur. Und zum ersten Mal seit langem schöpft sie Hoffnung.

Der Wille zieht sich durch Frau Acikgöz’ Lebenslauf wie ein roter Faden.
— Bettina Ganz Hoher, Fachstelle Wintegra

«Gleich nach dem ersten Gespräch bei Wintegra habe ich gewusst: Jetzt klappt es», sagt Acikgöz. Auch Bettina Ganz Hoher von Wintegra erinnert sich gut an ihr erstes Treffen mit Acikgöz: «Mir war sofort klar: Frau Acikgöz gibt nicht auf, und sie will lernen.» Das sehe man auch an ihrer Vergangenheit. «Sie hat es immer wieder probiert. Der Wille zieht sich durch ihren Lebenslauf wie ein roter Faden.»

Wintegra vermittelt Acikgöz einen sechsmonatigen Arbeitsversuch in einer Kita. «Das hat mir sehr viel Selbstvertrauen gegeben», sagt Acikgöz. «Ich habe gelernt, dass ich mich traue, auf Leute zuzugehen, und dass ich durchaus in einem höheren Pensum arbeiten kann.»

Die Arbeit bei der Kita macht Acikgöz so gut, dass man ihr sogar eine Teilzeitstelle anbietet – allerdings zu einem Praktikumslohn. Doch Acikgöz erhält von der IV nur eine Teilrente. «Da reicht ein Praktikumslohn zum Leben einfach nicht aus.» Wenig später öffnet sich eine neue Tür: Das Vorstellungsgespräch bei Zimmer Biomet.

Das passende Puzzleteil

Am 21. Januar 2021 nimmt Martin Feusi Acikgöz bei Zimmer Biomet in Empfang. Der 43-Jährige ist bereits seit 22 Jahren im Bereich Human Resources tätig. «Nach so vielen Jahren Berufserfahrung entwickelst du ein Bauchgefühl», sagt er. «Man merkt den Leuten einfach an, ob sie es wirklich wollen.» Bei Frau Acikgöz sei ihm das sofort klar gewesen: «Sie hat richtig gestrahlt.»

Eine gute Woche nach dem Gespräch und einigen Schnuppertagen erhält Acikgöz den Job bei Zimmer Biomet: «Das war ein unglaublicher Tag», sagt sie. «Endlich eine Zusage. Ich war überglücklich.» Die Suche nach einer geeigneten Stelle sei wie die Suche nach einem passenden Puzzleteil, sagt Ganz Hoher. «Jetzt haben wir eines gefunden, das perfekt passt. Und das ist eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.»

Ich bin wieder unabhängig. Ich habe einen Lohn, und ich entscheide, was ich damit machen möchte.
— Duygu Acikgöz

Das sieht auch Feusi so: «Als Unternehmen investierst du am Anfang etwas mehr, wenn du eine Person mit Beeinträchtigung einstellst, aber am Ende hast du eine toployale Mitarbeiterin, die Freude hat an ihrem Job.» Was die Einstellung von Menschen mit Handicap anbelange, wolle man eine Vorreiterrolle einnehmen, sagt Feusi. «Ich hoffe, dass wir andere Unternehmen damit inspirieren. In einem grossen Unternehmen hat es grundsätzlich Platz. Man muss die Ressourcen haben, und man muss wollen.»

Seit März packt Acikgöz nun bei Zimmer Biomet in der Produktion Medizinalartikel ein. Eine wichtige Aufgabe: «Man muss ganz genau hinschauen.» Die Arbeit bereitet ihr Freude. «Ich stehe am Morgen auf, habe eine Struktur und eine Aufgabe.»

Vor allem aber hat Acikgöz ihre Eigenständigkeit zurück: «Ich bin wieder unabhängig. Ich habe einen Lohn, und ich entscheide, was ich damit machen möchte.» Sie hoffe, sich in naher Zukunft ein Auto anschaffen zu können. Und sie hofft, dass sie Leute mit einer Beeinträchtigung inspirieren kann: «Immer dranbleiben, immer weitermachen, nie aufgeben», sagt sie. Und sie sagt es mit Bestimmtheit.


Interview zum Hintergrund

«Jeder Mensch hat ein Anrecht auf Anstellung»

Beeinträchtigte auf Jobsuche Bettina Ganz Hoher von der Fachstelle Wintegra der Stiftung Andante begleitet Menschen mit einer Beeinträchtigung bei der Jobsuche. Sie erklärt, wo die grössten Schwierigkeiten liegen.

Bettina Ganz Hoher von der Fachstelle Wintegra in Winterthur. Foto: Marc Dahinden

Welche Herausforderungen müssen Menschen mit Handicap bei der Jobsuche überwinden?

Bettina Ganz Hoher: Eine neue gesundheitliche Situation zu akzeptieren, ist oft sehr schwer und benötigt Zeit. Sich einzugestehen, dass man beispielsweise nicht mehr in den alten Beruf zurückkann. Oftmals ist für Betroffene unklar, was sie zu leisten vermögen. Schwierig ist für viele auch, über die gesundheitliche Situation zu sprechen. Sie würden zwar gerne darüber reden, wissen aber nicht, wie.

Wie unterstützen Sie Betroffene bei der Suche?

Wir arbeiten nach dem Modell von «Supported Employment». Zuerst klären wir ab, welche Tätigkeiten eine Person machen kann und wo sie vielleicht noch Hilfsmittel braucht. Dann suchen wir nach einer passenden Stelle. Wir üben zum Beispiel Bewerbungsgespräche oder vermitteln einen Arbeitsversuch. Ziel ist es, eine Festanstellung zu finden. Zum Schluss unterstützen wir Arbeitnehmende und Arbeitgebende noch wo immer nötig, ziehen uns aber langsam zurück.

Wann ist die Integration in den ersten Arbeitsmarkt der richtige Weg?

Eine Person darf im ersten Arbeitsmarkt nicht überfordert sein, und sie muss eine gewisse Grundselbstständigkeit mitbringen. Wir schauen deshalb ganz genau hin, was eine Person wirklich vermag, sowohl fachlich als auch körperlich, psychisch und kognitiv. Es kommt selten vor, dass wir finden, eine Person sei im geschützten Bereich besser aufgehoben.

Ist es schwierig, Unternehmen zu finden, die Personen mit Handicap einstellen?

Es ist heute einfacher, insbesondere seit der Begriff Diversity in aller Munde ist und die Rechte für Menschen mit Beeinträchtigung weltweit stärker eingefordert werden. Trotzdem ist es für uns immer noch Knochenarbeit. Wir müssen Arbeitgebende überzeugen, ermutigen und ihnen Unsicherheiten nehmen.

Wo liegen Unsicherheiten?

Oft kennen Arbeitgebende die Unterstützungsangebote der IV und von Wintegra nicht genau. Für Unsicherheiten sorgen aber vor allem auch psychische Erkrankungen, weil man diese nicht sieht und sie daher schwerer einzuordnen sind.

Gibt es Missverständnisse, was die Arbeitsintegration von Menschen mit Handicap betrifft?

Viele denken bei IV immer noch an Rente. Doch es geht eben in erster Linie um berufliche Eingliederung. Denn jeder Mensch hat ein Anrecht auf Anstellung. Krankheit oder Unfall kann uns alle treffen. Das Thema geht uns alle an.

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