Auf den Teller statt in die Tonne

Region 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel landen in der Schweiz pro Jahr im Abfall – meist unnötigerweise. Dem hat die Hilfskette den Kampf angesagt. In ihrem Lager in Volketswil sammelt die Organisation Lebensmittel und verteilt sie an Bedürftige in der Region.

Paula Smelko (links) und Stephan Müller haben dem Food-Waste-Problem den Kampf angesagt. Foto: Seraina Boner

Zu gross, zu dünn, zu krumm oder zu dunkel – so schnell kann es gehen, und das Rüebli landet statt auf dem Teller im Abfall. In der Schweiz wird rund ein Drittel der Lebensmittel weggeworfen. Ein Grossteil schafft es gar nicht erst in die Supermärkte. Aber auch die Container der Detailhändler und der Grossverteiler füllen sich jeden Tag mit Lebensmitteln, die nicht gekauft worden sind. 95 Prozent dieser Lebensmittelabfälle wären laut Bundesamt für Umwelt (Bafu) vermeidbar.

Hier setzt die Arbeit der Hilfsorganisation Hilfskette an. In ihrem Sortierlager in Volketswil landen jene Lebensmittel, die von Grossverteilern nicht verkauft werden konnten. Freiwillige Helferinnen und Helfer nehmen die Produkte entgegen und prüfen sie auf ihre Qualität. Was noch gegessen werden kann, wird an Bedürftige verteilt.

Fokus auf Frisches

Stephan Müller hat die Hilfskette 2019 gemeinsam mit vier Freunden gegründet. Ihr Ziel: Food-Waste aktiv zu bekämpfen und versteckte Armut in der Schweiz sichtbar zu machen. «Wir haben damals angefangen, ohne genau zu wissen, was auf uns zukommt», sagt der 63-jährige Landwirt. «Wir haben einfach gemerkt, dass die bestehenden Organisationen wie Die Tafel oder Tischlein deck dich das Bedürfnis nach Unterstützung aus Kapazitätsgründen nicht abdecken können.»

Was die Hilfskette so einzigartig macht, ist ihr Fokus auf Frischprodukte. Jeden Tag gelangen zwei bis drei Tonnen Obst und Gemüse, seltener auch Milchprodukte oder Fleisch in das Lager der Organisation.

Über die Hälfte der Produkte wird an Bedürftige abgegeben. Dafür werden die Lebensmittel vom Sortierlager in Volketswil zu den zehn Abgabestellen transportiert. Diese werden von Partnerorganisationen, zum Beispiel von Kirchgemeinden, betrieben.

Corona verschärft Situation

Wie Paula Smelko, Kommunikationsverantwortliche der Hilfskette, erklärt, spielt die Atmosphäre in den Abgabestellen eine wichtige Rolle. «Wir wollen, dass sich die Kunden so fühlen, als wären sie im Supermarkt.» Auch die soziale Komponente spielt eine wichtige Rolle: «Bei den Abgabestellen können sich die Menschen treffen und austauschen. So wirken wir Einsamkeit entgegen.»

Die beiden grössten Abgabestellen befinden sich in Wetzikon und in Uster. Mit der Corona-Krise hat sich die Lage dort laut Müller zugespitzt: «Seit Corona haben wir 30 Prozent mehr Zulauf. Unsere Verteilstellen in Uster und Wetzikon sind bereits am Anschlag.»

Wer bei der Hilfskette Lebensmittel beziehen will, braucht eine Berechtigungskarte. Eigentlich muss man dafür mindestens eine IPV-Bestätigung (Prämienverbilligung) vorweisen können. Allerdings sei man diesbezüglich flexibel, erklärt Müller: «Wer uns glaubhaft versichern kann, dass er oder sie Hilfe braucht, der bekommt auch Hilfe.» Die meisten Lebensmittel werden von Familien bezogen. Auffallend sei ausserdem, so Müller, dass seit diesem Jahr immer mehr Pensionierte das Angebot der Hilfskette in Anspruch nähmen.

Möglichst vieles verwerten

Lebensmittel, die sich nicht mehr für den menschlichen Verzehr eignen, werden an Tiere verfüttert oder kompostiert und zu Biogas verarbeitet. Daraus produziert Müller Strom für seinen Bauernhof. In der Abfalltonne landet im Sortierlager eigentlich nur noch Verpackungsmüll. «Wir trennen alles fein säuberlich. Was in irgendeiner Art und Weise verwertet werden kann, wird verwertet», erklärt Müller.

Die Lebensmittel enden aus verschiedenen Gründen bei der Hilfskette: In vielen Fällen ist das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen. Oder die Produkte weisen optische Mängel auf. Das heisst jedoch nicht, dass man nach dem Verzehr dieser Lebensmittel Bauchschmerzen bekommt.

Im Gegenteil: Gemäss Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) können Produkte auch nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums noch einige Zeit «risikolos» konsumiert werden.

Auch Müller bestätigt: «Die Qualität der Lebensmittel, die wir an Bedürftige abgeben, ist immer einwandfrei und unterliegt den Bestimmungen des Lebensmittelgesetzes.»

Ein Umdenken ist nötig

Für Müller ist klar: Um das Food-Waste-Problem in den Griff zu bekommen, braucht es ein Umdenken im Umgang mit Lebensmitteln. In der Produktion seien die Qualitätsnormen zu eng gefasst. «Einwandfreie Lebensmittel werden so aufgrund äusserlicher Merkmale aussortiert.»

Doch auch der Handel müsse wach werden, meint Müller. «Wir müssen uns fragen, ob wirklich alle Kohlrabis genau gleich gross sein müssen. Ein Single freut sich vielleicht über ein kleines Kohlrabi. Letztlich ist der Geschmack ja gleich.»

Paula Smelko sieht auch die Endverbraucher in der Pflicht: «Die Menschen haben vergessen, wie viel Arbeit in einem Lebensmittel steckt.» Dadurch fehle es an Wertschätzung. Müller ist diesbezüglich optimistischer: «Ich habe das Gefühl, dass sich bei den Endkonsumenten bereits viel getan hat. Die Menschen kaufen viel bewusster ein.»

Über 40 Freiwillige

Mittlerweile ist aus der Herzensangelegenheit Müllers ein grosses Unterfangen geworden. Über 40 freiwillige Helfer sind für die Hilfskette tätig. Sie übernehmen sämtliche Aufgaben, die anfallen: von der Sortierung der Nahrungsmittel über die Auslieferung an die Abgabestellen bis zu administrativen Angelegenheiten. Ein derartiges Engagement hätte Müller nie erwartet: «Ich bin unglaublich gerührt und dankbar für all die Unterstützung, die wir erhalten.»

Dennoch fehlen der Hilfskette immer noch viele fleissige Hände. «Wir sind immer auf der Suche nach Menschen, die uns unterstützen können – nicht nur als Freiwillige, sondern auch mit Geld- oder Sachspenden», sagt Müller.

Gerade an haltbaren Lebensmitteln wie Konserven fehle es zurzeit noch. «Momentan beschränkt sich unser Engagement vor allem auf das Zürcher Oberland. Mit genügend Unterstützung können wir irgendwann auch andere Gebiete abdecken. Vielleicht sogar im nahen Ausland.»

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