Nach 58 Jahren Beziehung - wie Demenz alles verändert
Angehörige von Demenzerkrankten Vor fünf Jahren erkrankte Elsa Stuckis Mann an Demenz. Seither nimmt sie Abschied. Eine Liebesgeschichte.
«Ich weiss nicht, wo Seen liegt», sagt Heinz Stucki (Name geändert). Die Worte des 80-Jährigen irritieren seine Frau Elsa Stucki (Name geändert). Wie kann er das nicht wissen? Immerhin liegt der Winterthurer Stadtteil nur rund fünf Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Als junger Mann hat Heinz in Seen geturnt. Hier stimmt etwas nicht, denkt Elsa.
Sofort vereinbart sie einen Termin beim Arzt. Ist man früh genug dran, dann kann man etwas machen, sagt sie sich. Gemeinsam fahren die beiden zur Abklärung. Nach Rümlang, in die Memory-Klinik. «Ich habe damals einfach gehofft, dass man es stoppen kann», erinnert sich Elsa Stucki an den Moment vor fünf Jahren, der alles verändert hat.
Die 80-Jährige sitzt in der Küche ihres Hauses in Schlatt. Überall hängen Fotos. Von ihren Kindern, ihren Enkelkindern und von ihrem Heinz. Elsa Stucki trägt ihre grauen Haare kurz. Sie ist klein, aber stark. Eine Kämpferin, die ihr Schicksal mit Fassung trägt und die das, was das Leben ihr zuspielt, hinnimmt. Ohne zu resignieren.
Damals in Rümlang habe man zu ihr gesagt, sie solle froh sein. «Es ist nicht Alzheimer. Ihr Mann ist dement.» Aber auch: «Nein, da kann man nichts machen.»
Rund 150’000 Betroffene leben aktuell in der Schweiz, knapp 25’000 davon im Kanton Zürich. Und es werden immer mehr. In den nächsten drei Jahrzehnten könnte sich die Anzahl Demenzerkrankungen weltweit fast verdreifachen.
Das zumindest prognostiziert eine Studie, die letztes Jahr in der Fachzeitschrift «The Lancet Public Health» veröffentlicht wurde. Laut den Autoren liegt die Zunahme an Erkrankungen in erster Linie daran, dass die Bevölkerungszahl wächst und die Menschen immer älter werden.
«Ein besonderer Tag»
Es ist ein früher Abend im Dezember. Der Himmel ist grau, und auf den Strassen in Elgg sind nur wenige Menschen unterwegs. Elsa Stucki steht vor dem Eingang des Pflegeheims ihres Mannes. Mit ausgestrecktem Zeigefinger gibt sie auf einem Panel einen Geheimcode ein. Die Tür springt auf.
Elsa ist heute bereits zum zweiten Mal hier. Als sie Heinz sieht, geht sie schneller. Er sitzt im Rollstuhl, blickt nach unten. Sie kniet sich nieder, greift nach seinen Händen und schaut ihm lachend ins Gesicht. Als ob jemand einen unsichtbaren Schleier wegzieht, fokussieren seine Augen plötzlich die ihren. Er lächelt und sagt: «Schön, bist du da.»
Vier kurze Worte – für Elsa Stucki sind sie ein Geschenk. «Heute ist ein besonderer Tag», sagt sie. Normalerweise könne er keine Sätze mehr bilden. Ihr letztes Gespräch liege bereits über ein Jahr zurück. Und trotzdem spricht Elsa immer mit Heinz. Sie erzählt ihm von der Weihnachtsbeleuchtung im Dorf oder vom Magenbrot, das eine Freundin vorbeigebracht hat. «Manchmal mault er dann zurück, aber ich verstehe ihn eigentlich nie.»
Heinz Stucki leidet an einer Lewy-Body-Demenz, einer vergleichsweise seltenen Demenzform, die sich vor allem durch einen Rückgang der geistigen Fähigkeiten im Alltag zeigt. Typisch für die Lewy-Body-Demenz sind Parkinson-Symptome wie Händezittern, versteifte Muskeln oder Probleme beim Gehen.
Viele Patienten entwickeln ausserdem Verhaltensstörungen im Schlaf. Sie schreien, sprechen oder bewegen sich, wenn sie träumen. Das Gedächtnis bleibt zu Beginn der Krankheit meist besser erhalten als bei Alzheimerpatienten. Mit der Zeit nimmt die Erinnerungsfähigkeit aber auch bei der Lewy-Body-Demenz immer mehr ab.
«Zu Beginn war unser Alltag eigentlich noch ganz ordentlich», erzählt Elsa. Damals geht sie oft mit ihrem Mann raus in die Natur – zu Fuss oder mit dem Velo. Auf dem Hof des Sohnes gleich nebenan kann Heinz aushelfen. «Er hat immer die Rossbollen zusammengenommen. Das war seine Arbeit, die er für sich alleine und in Ruhe machen konnte.»
Der Unfall
Das alles ändert sich im Februar 2020. Weil Elsa zu tun hat, schickt sie Heinz alleine zum Velofahren. Sie sagt ihm, er solle vor dem Haus hin und her kurven. Doch Heinz hört nicht auf sie. Er fährt vom Haus weg, bis auf die Hauptstrasse. Dort wird er von einem Auto angefahren.
«Seither ging es nur noch sturzbachab», sagt Elsa. Vom Unfall trägt Heinz zwar nur Quetschungen davon, doch vieles fällt ihm von nun an immer schwerer. Er kann sich nicht mehr alleine anziehen, wird unruhig, bekommt Schwierigkeiten beim Gehen und beim Sprechen.
Manchmal mache sie ihr Schicksal wütend, erzählt Elsa. Wenn sie merke, wie es wieder schlechter gehe, sage sie: «Lieber Gott, warum musst du mir das auch noch nehmen? Das, was du mir bereits genommen hast, hätte doch gereicht.» Am meisten schmerze sie, dass nichts mehr zurückkomme. Keine Worte, keine Zärtlichkeiten, keine Berührungen. «Das ist alles weg, weg, weg.» Und trotz all dem: Die Liebe zu ihrem Mann habe die Krankheit nicht verändern können. «Die ist da wie eh und je.»
«Ein Sportfanatiker»
58 Jahre hält Elsa und Heinz Stuckis Liebe nun schon an. Damals, 1965, lernen sich die beiden an einem Anlass der reformierten Kirche kennen. «Irgendetwas, wo sich junge Leute treffen konnten.» Er stammt aus Schlatt, sie aus Mönchaltorf, er arbeitet auf dem Hof der Familie, sie hat eben gerade die Bäuerinnenschule abgeschlossen.
«Heinz hat mir einfach gefallen, er war so ein witziger Mann – kein Schnurri, aber trotzdem ein Witzbold», erzählt Elsa. «Nachdem ich ihn kennen und lieben gelernt habe, gab es für mich niemand anderen mehr.» Zwei Jahre nach ihrem ersten Treffen heiraten die beiden, und Elsa zieht nach Schlatt. Sie haben drei Kinder – «Meitli, Bueb, Meitli».
Das Leben auf dem Bauernhof ist nicht nur einfach. «Wir mussten fest aufs Geld achten und haben sehr viel gearbeitet», sagt Elsa. Trotz der harten Arbeit im Stall finden die beiden immer wieder Zeit für gemeinsame Momente. Am liebsten gehen sie wandern. «Heinz war ein Sportfanatiker – er hat lange geturnt, später mit dem Bergsteigen angefangen und war Langläufler.»
Im Zimmer im Pflegeheim in Elgg sitzt Heinz im Rollstuhl. Elsa versucht, ihm einen roten Pullover überzuziehen. Die kleine Frau schnauft schwer, während sie immer wieder mit ihrer Hand in den Ärmel greift und nach seiner sucht. Heinz versteift sich. «Du musst deinen Arm locker lassen», sagt sie. Ein Pfleger eilt zu Hilfe. Gemeinsam klappt es schliesslich.
Lange hat Elsa Heinz alleine angezogen. Jeden Morgen. Gerade das Aufstehen wurde oftmals zu einem Kampf. Heinz weigerte sich, versteifte sich, wollte nicht aus dem Bett. «Da verliert man manchmal die Geduld», sagt sie. Wenn das passierte, ging Elsa schnell aus dem Zimmer. Sie wollte ihre Wut nicht an ihm auslassen. «Das ist die Krankheit, das ist die Krankheit», musste sie sich wieder und wieder sagen.
«Heinz hat immer gemerkt, wenn ich zu wenig Geduld mit ihm hatte und ihm zu wenig Zeit gegeben habe.» Sie habe viel an sich arbeiten müssen: «Ich war immer ein wenig zu schnell. Bei dieser Krankheit muss man so langsam werden und Sachen oft zehnmal sagen.»
Oftmals braucht es kreative Lösungen. Als Heinz plötzlich nicht mehr weiss, wo das Badezimmer ist, hängt Elsa ein Foto von einem Berg an die Türe. Statt aufs WC schickt sie Heinz fortan aufs Wetterhorn. «Das hat gut funktioniert.»
5,5 Milliarden Franken unbezahlte Arbeit
Eine durch «Alzheimer Schweiz» in Auftrag gegebene Studie kam 2019 zum Schluss, dass Demenz in der Schweiz geschätzte Gesamtkosten von 11,8 Milliarden Franken jährlich verursacht. 5,5 Milliarden, also knapp die Hälfte dieser Kosten, sind indirekte Kosten, die von Angehörigen getragen werden. Diese indirekten Kosten entsprechen dem Marktwert der unbezahlten, durch die Angehörigen geleisteten Betreuung und Pflege.
Für Elsa ist von Beginn an klar, dass sie Heinz so lange pflegen will, wie es nur geht. «Das hat mir mein Herz gesagt.» Doch Elsa weiss auch, wann sie Hilfe annehmen muss. Sie geht in eine Selbsthilfegruppe für Angehörige, holt sich Unterstützung von der Spitex und bei zwei Frauen, die mit Heinz spazieren gehen.
Auch als Heinz im Herbst plötzlich Albträume bekommt, holt sie Hilfe. «Heinz hat jede Nacht geschrien, man hörte es im ganzen Haus.» Elsa kann nicht mehr schlafen, ruft den Arzt an, dann das Pflegeheim. Dort hat man ein Bett für Heinz.
Elsa gibt Heinz ab, auch wenn es ihr das Herz bricht. «Das war der schwierigste Moment bis jetzt», sagt sie. Den Gedanken, dass ihr Mann nie mehr nach Hause komme, ertrage sie nicht. «Ich schiebe ihn immer gleich weg, sonst kommt der ganze Kummer hoch.»
Andauernd stellt sich Elsa die Frage, wie es ihrem Mann wohl geht. «Ich würde es einfach so gerne wissen: Sitzt er nur da, weil er zufrieden ist, oder sitzt er da, weil er nicht weiss, was er machen soll.»
Die Liebe trägt
Seit mehr als fünf Jahren nimmt Elsa Abschied. Das ist hart, manchmal fast unerträglich. Und doch hat sie nie aufgegeben. «Die tiefe Liebe, die man zum Partner hat, scheint in solchen Zeiten besonders stark», sagt sie. «Sie trägt einen durch alles, was kommt.»
Heinz sitzt im Rollstuhl. Elsa hat ihn vor den geschmückten Christbaum auf dem Elgger Dorfplatz geschoben. «Schau, wie schön die Lichter strahlen», sagt sie und umarmt ihn. Er murmelt etwas und lächelt dann. «Heute ist ein besonderer Tag», sagt sie.